Als man das luegen abschaffte
Der Tag, an dem Gott die Lüge abschaffte…
…war ein Samstag und er begann für mich wie viele andere auch zu ungesund früher Stunde mit dem Weckerfiepen. Ich schreckte hoch wie immer, brachte meinen rasenden Puls unter Kontrolle und stoppte die Krachelektronik mit einem gezielten Handkantenschlag. Einem sanften Schlag allerdings, denn ich liebe meinen Wecker. Er ist treu und hat noch nie versagt.
Mein Morgenritual ist auf die Sekunde ausgeplant, mit einer Sicherheitsreserve von sechs Minuten, falls mal ein Schuhband reißt. Ich hasse Hektik, bin aber auch nicht bereit oder fähig, zu nachtschlafener Zeit aufzustehen, nur um mir lauwarmen Koffeinextrakt einzuflößen. Die Folge ist, dass ich meinen Arbeitsweg auf Autopilot zurücklege, aber ist städtischer Nahverkehr frühmorgens wirklich erlebenswert? Ich erreichte zu vorgesehener Zeit die Haltestelle, die Straßenbahn erschien pünktlich und ich stieg ein.
Das erste, was mir auffiel, war eine Werbung der Polizei, an der ich jeden Morgen vorbeigeschaukelt wurde.
„Wir wollen, dass sie sicher leben“, war da normalerweise zu lesen. Heute glaubte ich „Wir wollen, dass sie Ruhe geben“, zu erkennen. Auch die nie so richtig wahrgenommene Behauptung einer Ladenkette, „Alles für unsere Kunden“, hatte sich scheinbar in „Alles für unsere Aktionäre“ verwandelt. Die Straßenbahn fuhr schnell daran vorbei. Vielleicht ein Studentenulk. Ein Jugendjux. Und wie gesagt, ich war noch lange nicht wach.
Ich verließ die Bahn schließlich und erreichte nach wenigen Metern Fußweg meinen Arbeitsplatz, ein langweiliges Bürogebäude, in dem ich als Wächter tätig war. An Wochenenden entspricht der hiesige Kundenverkehr exakt meinem Sexualleben, was bedeutet, dass keinerlei Verkehr stattfindet. Auf einer Seite empfinde ich das als sehr beruhigend und angenehm und sie dürfen nicht raten, auf welcher.
Ich vollzog also das Ritual der Wachablösung, wobei mich der „Mann-siehst-du-Scheiße-aus“-Kommentar des Kollegen nur geringfügig tangierte, da diese Feststellung in keinerlei Widerspruch zu meiner Eigenwahrnehmung steht. Ich nahm die Schlüssel entgegen, zog meinen Sokrates aus dem Rucksack und richtete mich auf geruhsame Stunden mit Klassik-CD´s, meiner Thermoskanne und dem berühmten griechischen Selbstmörder ein.
Der Tag verging wie im Flug. Erst abends überfiel mich die Realität.
Zuerst kam meine Ablösung, ein neunzehnjähriger Bengel, viel zu spät. Seinem Alter entsprechend reagierte er auf meinen unausgesprochenen Vorwurf recht lax.
„Sorry, Alder“, krähte er. „Aber da draußen ist die Hölle los! Hab schon überlegt, ob ich überhaupt komme. Hast du denn kein…“
Ich winkte ab, wenig interessiert an seinen kaum manifestierbaren Gedankengängen, aber der aufgekratzte Pickelträger war nicht zu stoppen.
„Ich möchte mal wissen“, quäkte er, während ich den Sokrates verstaute, „warum sich einer, der den ganzen Tag so gelehrige Bücher liest wie du, nicht einen besseren Job sucht.“
Ich zog eine Augenbraue hoch, immerhin hatte er einen mehrteiligen Satz zustande gebracht. Aus purer Anerkennung dieser Tatsache befand ich die Frage einer Antwort für würdig.
„Wenn“, eröffnete ich ihm. „Wenn du eines eher fernen Tages die Begriffe Muße und Besitz in ihrer Gesamtbedeutung für die persönliche Entwicklung eines intelligenten Wesens zu definieren in der Lage bist…“. Ich machte eine Kunstpause, damit er wenigstens die Worte erfassen konnte. „Dann beantworte ich deine Frage.“
Es ist wohl unnötig, zu erwähnen, dass ich im Kollegenkreis den Ruf eines Sonderlings habe. Bestenfalls.
An der Haltestelle war nichts Ungewöhnliches. In den vorbeifahrenden Autos allerdings erspähte ich überdurchschnittlich viele Gesichter, die in Grimassen von Gelächter aufgelöst waren oder den Ausdruck völliger Verblüffung oder gar von Zorn trugen. Bevor ich darüber nachdenken konnte, rollte die Bahn heran. Ich stieg ein und geriet in ein Volksfest.
Jeder kennt das Aufflammen des Gemeinschaftsgefühls der Massen, wenn eine besondere Situation auftritt, sei es Hochwasser oder ein plötzlicher Schneesturm. Solch eine Situation schien vorzuliegen. Wildfremde Menschen unterhielten sich lautstark, die Umstehenden wie selbstverständlich mit einbeziehend, reichten mit Lauten höchster Überraschung und Empörung Flugblätter herum, bei denen es sich offensichtlich um hastig kopierte private Mitteilungen zu handeln schien.
Wortfetzen und halbe Sätze brandeten um mich her und obwohl ich mir einen analytischen Verstand zugute halte, wurde ich nicht im Mindesten daraus schlau.
„…ein Skandal, ach was, die Mutter aller Skandale…“
„…vier Exfrauen und der kann den gesamten Unterhalt von der Steuer…“
„…Milliarden, sag ich ihnen, Milliarden. Einfach so geklaut….seit Jahren…“
„…ich hab´ das ja immer schon gewusst…“
Ich wusste gar nichts. Aber ein unbehagliches Gefühl stieg in mir auf, so als ob man seine Gewinnzahlen im Radio hört und nicht mehr genau weiß, wo der Lottoschein ist. Mir fielen die Reklamesprüche von der morgendlichen Fahrt ein. Die Bahn erreichte das Stadtzentrum. Und hielt.
Tausende blockierten die Straßen. Ein Sturm schien losgebrochen. Ich taumelte ins Freie.
Die Printmedien waren nicht schnell genug gewesen oder gestoppt worden. Das Fernsehen war noch kontrollierter und außerdem nie richtig auf der Straße angekommen. Es war die Stunde des Radios.
An jeder Straßenecke stand jemand mit einem Ghettoblaster, vor Lokalen und Läden waren Lautsprecherboxen aufgebaut worden, Autos parkten mit weit geöffneten Türen mitten auf den Bürgersteigen, umringt von einer aufgebrachten, wogenden Menschenmenge, die ebenso empört wie euphorisch wirkte, gleichzeitig wutentbrannt und seltsam freudig, in offenbar sicherer Ahnung ferngeglaubten Glücks. Ich trieb eine Zeit lang völlig fassungslos durch die Massen, dann konzentrierte ich mich vor einem besonders gut mit Lautsprechern bestückten Markteingang und hörte zu. Kein einziger der eingestellten Sender brachte allerdings Musik zu Gehör.
„Bundeskanzlerin Merkel betonte: Die Amerikaner halten sich nicht nur für die Größten, sie sind es leider auch, zumindest wirtschaftlich gesehen und wes Brot ich ess´, des Lied ich sing´, ich sag das mal jetzt ganz unverfroren, meine Damen und Herren…“
„…Deutschland ist eigentlich seit Jahrzehnten schon pleite, die überhastete Wiedervereinigung hat das Dilemma nur verschlimmert. Ich kann aus meinem Amt mit glasklaren Vorgängen belegen, dass sämtliche Steuereinnahmen, die ohnehin nur auf geschönten Schätzungen beruhen, praktisch einfach in einen großen Sack gekippt und an ausgekungelte Interessengruppen verteilt werden. Zur Wahrung des Scheins natürlich…“
„…sind Renten- und Pflegeversicherung praktisch seit Jahren nicht mehr existent…Mineralöl- und KFZ-Steuer werden fast ausschließlich zur Deckung von…dass viele Ämter keinerlei staatstragende Interessen mehr verkörpern…“
„Bundeswehr? Wollen Sie mich veräppeln? Das ist doch nur noch ein Alibihaufen für Beschaffungsamt und Rüstungskonzerne…“
„Altkanzler Schröder sagte, dass über Geld nicht gesprochen worden sei. Zitat: „Allerdings wissen die schon, dass ich mindestens zwei Mille im Jahr haben will, plus Spesen natürlich…“
Die Sprecher waren sämtlich nicht weniger aufgeregt als ihre Zuhörer, einige schienen auch keine Profis zu sein, sie verhaspelten sich und schalteten wahllos zwischen Life-Auftritten und aufgezeichneten Reden hin und her. Die Menge quittierte jede neue Äußerung bekannter Persönlichkeiten und Politiker mit lautstarkem Sarkasmus. Ich schüttelte hilflos den Kopf.
Sicher, es war Wahlkampf. Und vielleicht hatten schlaue Strategen eine Neuauflage von Gorbatschows Perestroika für eine gute Idee gehalten, die allerdings, ganz wie ihre Vorgängerin, aus dem Ruder gelaufen war.
Ich hatte mich seit Jahren von jeglicher Politik ferngehalten, besaß weder ein Fernsehgerät noch ein Zeitungsabonnement. Schon allein die unsäglichen Wahlplakate, mit denen man die Stadt verkleistert hatte, riefen regelmäßig meinen Abscheu hervor. Ich sah mich nach ihnen um und der zweite Schock traf mich unvorbereitet.
Die Wahlplakate waren noch da. Aber sie zeigten die Abbilder machthungriger Bürokraten völlig unretuschiert. Also potthässlich. Und die Bildtexte hatten sich gründlich verändert.
CDU – Für unsere Pfründe!, stand da zu lesen.
Macht ist geil, drum – SPD
FDP – Ohne Amt bin ich nur schwul!
Protestieren statt regieren – Hauptsache, nicht arbeiten – PDS
Vorwärts Deuschland – Denkt ihr, wir wollen von Rente leben??
Umweltschutz ist uns egal, der Dienstwagen zählt allemal!
Ich konnte es nicht fassen. Beim Umschauen fielen mir die in der Fußgängerzone allgegenwärtigen Werbebotschaften ins Auge. Auch sie hatten völlig andere Aussagen.
Müller-Knilch! Von wegen Fruchtstücke!
Der neue Meg-an! Jetzt noch mehr teurer!
Humbug-Mülleimer! Wir haben Zeit. Und Anwälte.
Jemand stieß mir in die Seite. Eine Frau, Mittelalter, blondierte Haare, die ihr wirr ins Gesicht hingen. „Sehen sie sich das an!“, brüllte sie und klatschte mir eine Tiefkühlpizza in die Arme. Als ich konsterniert inne hielt, riss sie die Packung in meinen Händen herum und stieß sie mir förmlich ins Gesicht.
„Sehen sie! Lesen sie!“.
Ich las:
„…Abfallprodukt aus Rinderklauen und Altölrückständen…Konservierungsstoff, basierend auf eindeutig krebserregenden…Geschmacksstoff mit Industriedichtmasse…Streckmittel der Pharma-Industrie…Reste aus maschineller Konservenproduktion..“
Alles fettgedruckt. Lupenreiner Klartext. Ich entdeckte keine einzige der kryptischen Zahlen- und Buchstabenkombinationen, die normalerweise auf allen Lebensmittelverpackungen Information vorgaukeln. Das war der Todesstoß.
Ich wankte durch die tobende Menge und ließ die Pizza einfach fallen. Eine freie Stelle, ich brauchte Luft. Die Katastrophe nahm mir den Atem.
Ich entdeckte Gott, als er gerade zwei Polizisten rettete, indem er sie samt Dienstwagen einschrumpfte und einem weinenden Mädchen zum spielen gab. Er hatte seinen Heiligenschein wohl abgeschaltet und wirkte nicht im Mindesten wie der große Weltenlenker, eher wie ein Philosophiestudent im dreißigsten Semester. Er trug einen Zopf, braune Cargohosen und ein Piratenhemd. Und ER sah ein eindeutig mürrisch drein.
„Hör mal, Alter, so geht das nicht“, sprach ich ihn an und biss mir auf die Zunge. Sein Outfit hatte glatt meinen ansonsten sehr gepflegten Ausdruck verfälscht.
„Wie meinen?“ ER starrte mich ausdruckslos an. „Passt dir was nicht, Adam?“
Ich holte tief Luft. „Verdammt noch mal, was hast du getan!“, schrie ich IHN an. „Alles wird zusammenbrechen!“
ER hörte gar nicht hin. Mit ausgebreiteten Armen schritt ER über den Platz wie ein genervter Versicherungsvertreter nach dem dreißigsten Hurrican in Oklahoma und schimpfte vor sich hin.
„Da guckt man mal zweitausend Jahre nicht in seinen Hobbykeller und was passiert? Aus dem lustigsten Spielchen der letzten Äonen ist ein selbstzerstörerischer Haufen Mist geworden!“
ER fuhr zu mir herum. „Ich hab´ euch doch nicht viertausend Sprachen gegeben, damit ihr nicht in einer einzigen davon die Wahrheit sagt. Eure Seele ist unsterblich, aber glaubt ihr denn, das kleine, zarte Ding ist deswegen auch unverletzbar?“
Ich zögerte vor diesem Ausbruch. „Aber…“, begann ich.
„Aber was?!“ ER war wirklich nicht bester Laune. Ich nahm allen Mut zusammen.
„Aber man kann doch nicht immer die Wahrheit sagen.“
„Ach nein?“ SEIN Blick war traurig. „Das erklär´ mir mal bitte.“
Ich geriet ins Stottern. Wo beginnen?
„Na zum Beispiel…die Blümchen und die Bienchen…Die müssen doch bleiben…Ich meine…Man kann doch den Kindern nicht…“ Ich verfluchte mich. Ausgerechnet das blödeste Beispiel.
„Willst du mich verarschen?“ ER klang unendlich enttäuscht.
„Gerade dort beginnt es doch. Wenn Du ein Kind belügst, egal womit und in welcher Absicht, wird es die Wahrheit irgendwann von selbst herausfinden. Damit bist du als Vertrauter erledigt. Zweitens gewöhnst du dir und ihm an, für unbequeme Wahrheiten bequeme Lügen zu erfinden. Wer lügt, liebt aber nicht. Wer nicht geliebt wird, lernt nie, selbst zu lieben. Wer nie liebt, kann nie lieben lehren. Auch seine Kinder nicht.
Ungeliebte Kinder werden bösartige Erwachsene. Schau dir die Welt an, Adam. Was glaubst du, ist die Ursache?“
Ich schluckte. Immerhin sprach ER noch mit mir. Ich fasste Mut.
„Aber wenn ich Arzt wäre…Und du Krebs hättest…Im Endstadium…Moment mal, warum gibt’s eigentlich…“
„Warum willst du unbedingt lügen?“, unterbrach ER mich. ER trat näher und sah mir in die Augen. Die seinen changierten in allen Regenbogenfarben.
„“Wenn du mir Wahrheit gibst, was könntest du mir nehmen?“, sprach ER. „Die Hoffnung? Letzte Lebenszeit? Nichts dort gehört zu dir, doch alles mir. Und das Vertrauen, dass du dir erwirbst, wird stärken meine Seele.
So denn noch Hoffnung ist, werd´ ich dir folgen und wo es keine gibt, dort zähl´ auf mich.“
„Shakespeare?“, stammelte ich.
„Leck mich“, knurrte Gott.
„Versteh´ doch“, fuhr ER nach einer Pause fort.
„Die Lüge ist die Wurzel allen Übels. Durch sie verliert ihr das Vertrauen, betrachtet euch als Gegner und als Konkurrenten, als Todfeinde bald und ihr könnt das gar nicht einmal mehr aus der Welt schaffen, weil ihr nämlich gar nichts mehr glaubt.
Eure hohlen Phrasen, eure verquasten Ausdrücke, die verlogene Werbung, das Kleingedruckte; egal in welchem Bereich, sogar in den meisten Ehen, nichts als Lug und Trug.
Das ist für euch schon so normal geworden wie atmen. Selbst die Liebe kann nicht mehr alles richten, ihr vertraut euch ja nicht einmal selbst. Oder kannst du mir eine zeitlose Liebe zeigen? Eine Leidenschaft, für die man alle Masken fallen lässt, auf Gedeih oder Verderb, besinnungs- und bedingungslos? Und wenn du mir jetzt mit euren unsäglichen Beziehungen kommst, dann raste ich aus.“
Hier war Vorsicht angesagt. Aber ich konnte mich nicht bremsen.
„Ich soll also meiner Geliebten unverblümt sagen, dass sie fett wird, ja? Ihre Cellulite beschreiben, richtig? Und das alles auf Gedeih und Verderb, wie?“
Ich legte so viel Sarkasmus in meine Stimme wie nur möglich, aber das leichte Zittern machte die Wirkung zunichte. Ich stritt mich immerhin mit IHM.
„Nein.“ Gott lächelte milde. „ Glaub mir, deine Liebe weiß das besser als du. Und wenn es dich stört, werden deine Blicke dich längst verraten haben. Ansonsten könntest du auch einfach den Mund halten.“
ER verschränkte die Arme vor der Brust. „ Ich habe es lediglich so eingerichtet, dass jeder, der sich äußert, egal ob mündlich oder schriftlich oder wie auch immer, ob er ein Bild malt oder ein Foto macht, ob mit Musik, im Gebet oder bei einer öffentlichen Erklärung, er sich der Wahrheit bedienen muss, weil es einfach keine Lüge mehr gibt.
Ich hab sie aus dem Programm geschrieben.“
„Na toll“, murrte ich. „Also keine Gemälde mehr, kein Theater, kein Kino. Auch keine Romane. Verdammt. Du hast ´ne Meise, weißt du das?“
Statt mich in Stein zu schlagen, grinste ER.
„Gemälde. Kino. Da liegt dir dran, was?“
Ich zuckte ertappt die Schultern und ER lachte laut.
„Keine Angst“, beruhigte er mich. „Was der Maler sieht und darstellt, ist für ihn eine Wahrheit, also auch für dich. Niemand erwartet in einem Roman die Realität. Und auf der Bühne ist es ein Spiel. Nur die Fotografen werden sich in Zukunft an die Gegebenheiten halten müssen. Da lernen sie wieder richtig arbeiten.“
Ich seufzte. „Also keine photogeshopten Südseesonnenuntergänge mehr.“
„Die sind schön, so wie sie sind“, sagte Gott. „Du solltest mal hinfahren.“
„Wovon denn?“, plärrte ich. „Bei dem globalen Chaos, das jetzt losbricht, kann ich froh sein, nicht verhungern zu müssen. Hast du überhaupt eine Ahnung, was du angerichtet hast? Aktienanalysen, die Börse, internationale Verträge, Bündnisse und Koalitionen, nichts hätte mehr Bestand, nichts wird mehr gültig sein! Du hast doch recht, wir können die Wahrheit einfach nicht verkraften! Es werden Millionen sterben, Gott!!“
„Nu und?“, meinte ER ungerührt. „Ihr seid sowieso viel zu viele. Vielleicht kriegt der Rest sogar die Umweltschäden wieder hin. Denkst du, ich habe Lust, den ganzen Kram noch mal zu schaffen?“
ER beäugte seine Fingernägel. „Nö, du.“
Ich sah die Sonne sinken.
***
Müde schleppte ich mich spätnachts in meine Wohnhöhle zurück, unter den Armen einen Kofferfernseher und einen Laptop. Ich würde Gott kontrollieren müssen.
In der Sache war er hart geblieben, aber wir hatten uns geeinigt. Keinen sofortigen Lügenentzug und einen Tagesneustart. Stattdessen ab morgen zufällig ausgewählte Menschen, jeden Tag mehr und jeder mehr Tage ohne Lüge als vorher. Auf diese Weise würde sich das System durch die Beispielwirkung irgendwann selbst tragen und die Gesellschaften nicht schlagartig überlasten. ER hatte bereitwillig zugehört, als ich IHM meinen Plan erläuterte.
„Okay“, meinte ER dann cool. „Wie viele für den Anfang?“
„Von mir aus fünfzig“, bestimmte ich forsch. „Weltweit natürlich. Und lügenlos für, sagen wir, erst mal eine Woche.“
„Soso, na gut“, meinte er. Ich glotzte. Gott hatte tatsächlich einen Filofax. Nur dass seine Tage Jahrtausende waren. Er krakelte drin rum.
„Und was ist mit Wechsel?“, fragte er. „Monatlich? Oder abhängig von der vorherigen Dauer?“
„Von der vorherigen Dauer“, sagte ich, auf einmal gar nicht so sicher wie am Anfang. ER wirkte einfach zu bereitwillig.
„Okidoki.“ Gott knallte den Kalender zu, ein Donnerschlag hallte durch die Fußgängerzone. „Dann sind wir uns wohl einig.“ ER streckte mir die göttliche Pfote hin und ich schlug ein. Mit der anderen Hand winkte ER über die Schulter.
„Wenn du noch schnell was plündern willst, da drüben ist ein Media-Markt. Ich warte dann mit der Ratifizierung.“
Und deshalb surfe ich jetzt jeden Tag durch´s Internet. Ich überwache die Newsgroups und die großen Zeitungen, die Diskussionsforen, Weblogs und die Agenturen. Der Fernseher läuft Tag und Nacht, ein Radio habe ich immer dabei. Noch wirkt das System nur in der Privatsphäre, aber ich finde immer mehr von uns. Und wenn es durchbricht, wird irgendwann, irgendwo irgendwer auch offiziell die Wahrheit sagen. Bis jetzt betrügen sie alle und schlimmer noch, sie glauben selbst an ihre Lügen. Aber ich weiß, dass ihre Zeit abläuft. Wir schlagen sie mit Wahrheit, mit unseren eigenen, wahrhaftigen Leben.
Ich hoffe nur, wir schaffen es, bevor ER mal wieder in seinen Hobbykeller steigt…
…war ein Samstag und er begann für mich wie viele andere auch zu ungesund früher Stunde mit dem Weckerfiepen. Ich schreckte hoch wie immer, brachte meinen rasenden Puls unter Kontrolle und stoppte die Krachelektronik mit einem gezielten Handkantenschlag. Einem sanften Schlag allerdings, denn ich liebe meinen Wecker. Er ist treu und hat noch nie versagt.
Mein Morgenritual ist auf die Sekunde ausgeplant, mit einer Sicherheitsreserve von sechs Minuten, falls mal ein Schuhband reißt. Ich hasse Hektik, bin aber auch nicht bereit oder fähig, zu nachtschlafener Zeit aufzustehen, nur um mir lauwarmen Koffeinextrakt einzuflößen. Die Folge ist, dass ich meinen Arbeitsweg auf Autopilot zurücklege, aber ist städtischer Nahverkehr frühmorgens wirklich erlebenswert? Ich erreichte zu vorgesehener Zeit die Haltestelle, die Straßenbahn erschien pünktlich und ich stieg ein.
Das erste, was mir auffiel, war eine Werbung der Polizei, an der ich jeden Morgen vorbeigeschaukelt wurde.
„Wir wollen, dass sie sicher leben“, war da normalerweise zu lesen. Heute glaubte ich „Wir wollen, dass sie Ruhe geben“, zu erkennen. Auch die nie so richtig wahrgenommene Behauptung einer Ladenkette, „Alles für unsere Kunden“, hatte sich scheinbar in „Alles für unsere Aktionäre“ verwandelt. Die Straßenbahn fuhr schnell daran vorbei. Vielleicht ein Studentenulk. Ein Jugendjux. Und wie gesagt, ich war noch lange nicht wach.
Ich verließ die Bahn schließlich und erreichte nach wenigen Metern Fußweg meinen Arbeitsplatz, ein langweiliges Bürogebäude, in dem ich als Wächter tätig war. An Wochenenden entspricht der hiesige Kundenverkehr exakt meinem Sexualleben, was bedeutet, dass keinerlei Verkehr stattfindet. Auf einer Seite empfinde ich das als sehr beruhigend und angenehm und sie dürfen nicht raten, auf welcher.
Ich vollzog also das Ritual der Wachablösung, wobei mich der „Mann-siehst-du-Scheiße-aus“-Kommentar des Kollegen nur geringfügig tangierte, da diese Feststellung in keinerlei Widerspruch zu meiner Eigenwahrnehmung steht. Ich nahm die Schlüssel entgegen, zog meinen Sokrates aus dem Rucksack und richtete mich auf geruhsame Stunden mit Klassik-CD´s, meiner Thermoskanne und dem berühmten griechischen Selbstmörder ein.
Der Tag verging wie im Flug. Erst abends überfiel mich die Realität.
Zuerst kam meine Ablösung, ein neunzehnjähriger Bengel, viel zu spät. Seinem Alter entsprechend reagierte er auf meinen unausgesprochenen Vorwurf recht lax.
„Sorry, Alder“, krähte er. „Aber da draußen ist die Hölle los! Hab schon überlegt, ob ich überhaupt komme. Hast du denn kein…“
Ich winkte ab, wenig interessiert an seinen kaum manifestierbaren Gedankengängen, aber der aufgekratzte Pickelträger war nicht zu stoppen.
„Ich möchte mal wissen“, quäkte er, während ich den Sokrates verstaute, „warum sich einer, der den ganzen Tag so gelehrige Bücher liest wie du, nicht einen besseren Job sucht.“
Ich zog eine Augenbraue hoch, immerhin hatte er einen mehrteiligen Satz zustande gebracht. Aus purer Anerkennung dieser Tatsache befand ich die Frage einer Antwort für würdig.
„Wenn“, eröffnete ich ihm. „Wenn du eines eher fernen Tages die Begriffe Muße und Besitz in ihrer Gesamtbedeutung für die persönliche Entwicklung eines intelligenten Wesens zu definieren in der Lage bist…“. Ich machte eine Kunstpause, damit er wenigstens die Worte erfassen konnte. „Dann beantworte ich deine Frage.“
Es ist wohl unnötig, zu erwähnen, dass ich im Kollegenkreis den Ruf eines Sonderlings habe. Bestenfalls.
An der Haltestelle war nichts Ungewöhnliches. In den vorbeifahrenden Autos allerdings erspähte ich überdurchschnittlich viele Gesichter, die in Grimassen von Gelächter aufgelöst waren oder den Ausdruck völliger Verblüffung oder gar von Zorn trugen. Bevor ich darüber nachdenken konnte, rollte die Bahn heran. Ich stieg ein und geriet in ein Volksfest.
Jeder kennt das Aufflammen des Gemeinschaftsgefühls der Massen, wenn eine besondere Situation auftritt, sei es Hochwasser oder ein plötzlicher Schneesturm. Solch eine Situation schien vorzuliegen. Wildfremde Menschen unterhielten sich lautstark, die Umstehenden wie selbstverständlich mit einbeziehend, reichten mit Lauten höchster Überraschung und Empörung Flugblätter herum, bei denen es sich offensichtlich um hastig kopierte private Mitteilungen zu handeln schien.
Wortfetzen und halbe Sätze brandeten um mich her und obwohl ich mir einen analytischen Verstand zugute halte, wurde ich nicht im Mindesten daraus schlau.
„…ein Skandal, ach was, die Mutter aller Skandale…“
„…vier Exfrauen und der kann den gesamten Unterhalt von der Steuer…“
„…Milliarden, sag ich ihnen, Milliarden. Einfach so geklaut….seit Jahren…“
„…ich hab´ das ja immer schon gewusst…“
Ich wusste gar nichts. Aber ein unbehagliches Gefühl stieg in mir auf, so als ob man seine Gewinnzahlen im Radio hört und nicht mehr genau weiß, wo der Lottoschein ist. Mir fielen die Reklamesprüche von der morgendlichen Fahrt ein. Die Bahn erreichte das Stadtzentrum. Und hielt.
Tausende blockierten die Straßen. Ein Sturm schien losgebrochen. Ich taumelte ins Freie.
Die Printmedien waren nicht schnell genug gewesen oder gestoppt worden. Das Fernsehen war noch kontrollierter und außerdem nie richtig auf der Straße angekommen. Es war die Stunde des Radios.
An jeder Straßenecke stand jemand mit einem Ghettoblaster, vor Lokalen und Läden waren Lautsprecherboxen aufgebaut worden, Autos parkten mit weit geöffneten Türen mitten auf den Bürgersteigen, umringt von einer aufgebrachten, wogenden Menschenmenge, die ebenso empört wie euphorisch wirkte, gleichzeitig wutentbrannt und seltsam freudig, in offenbar sicherer Ahnung ferngeglaubten Glücks. Ich trieb eine Zeit lang völlig fassungslos durch die Massen, dann konzentrierte ich mich vor einem besonders gut mit Lautsprechern bestückten Markteingang und hörte zu. Kein einziger der eingestellten Sender brachte allerdings Musik zu Gehör.
„Bundeskanzlerin Merkel betonte: Die Amerikaner halten sich nicht nur für die Größten, sie sind es leider auch, zumindest wirtschaftlich gesehen und wes Brot ich ess´, des Lied ich sing´, ich sag das mal jetzt ganz unverfroren, meine Damen und Herren…“
„…Deutschland ist eigentlich seit Jahrzehnten schon pleite, die überhastete Wiedervereinigung hat das Dilemma nur verschlimmert. Ich kann aus meinem Amt mit glasklaren Vorgängen belegen, dass sämtliche Steuereinnahmen, die ohnehin nur auf geschönten Schätzungen beruhen, praktisch einfach in einen großen Sack gekippt und an ausgekungelte Interessengruppen verteilt werden. Zur Wahrung des Scheins natürlich…“
„…sind Renten- und Pflegeversicherung praktisch seit Jahren nicht mehr existent…Mineralöl- und KFZ-Steuer werden fast ausschließlich zur Deckung von…dass viele Ämter keinerlei staatstragende Interessen mehr verkörpern…“
„Bundeswehr? Wollen Sie mich veräppeln? Das ist doch nur noch ein Alibihaufen für Beschaffungsamt und Rüstungskonzerne…“
„Altkanzler Schröder sagte, dass über Geld nicht gesprochen worden sei. Zitat: „Allerdings wissen die schon, dass ich mindestens zwei Mille im Jahr haben will, plus Spesen natürlich…“
Die Sprecher waren sämtlich nicht weniger aufgeregt als ihre Zuhörer, einige schienen auch keine Profis zu sein, sie verhaspelten sich und schalteten wahllos zwischen Life-Auftritten und aufgezeichneten Reden hin und her. Die Menge quittierte jede neue Äußerung bekannter Persönlichkeiten und Politiker mit lautstarkem Sarkasmus. Ich schüttelte hilflos den Kopf.
Sicher, es war Wahlkampf. Und vielleicht hatten schlaue Strategen eine Neuauflage von Gorbatschows Perestroika für eine gute Idee gehalten, die allerdings, ganz wie ihre Vorgängerin, aus dem Ruder gelaufen war.
Ich hatte mich seit Jahren von jeglicher Politik ferngehalten, besaß weder ein Fernsehgerät noch ein Zeitungsabonnement. Schon allein die unsäglichen Wahlplakate, mit denen man die Stadt verkleistert hatte, riefen regelmäßig meinen Abscheu hervor. Ich sah mich nach ihnen um und der zweite Schock traf mich unvorbereitet.
Die Wahlplakate waren noch da. Aber sie zeigten die Abbilder machthungriger Bürokraten völlig unretuschiert. Also potthässlich. Und die Bildtexte hatten sich gründlich verändert.
CDU – Für unsere Pfründe!, stand da zu lesen.
Macht ist geil, drum – SPD
FDP – Ohne Amt bin ich nur schwul!
Protestieren statt regieren – Hauptsache, nicht arbeiten – PDS
Vorwärts Deuschland – Denkt ihr, wir wollen von Rente leben??
Umweltschutz ist uns egal, der Dienstwagen zählt allemal!
Ich konnte es nicht fassen. Beim Umschauen fielen mir die in der Fußgängerzone allgegenwärtigen Werbebotschaften ins Auge. Auch sie hatten völlig andere Aussagen.
Müller-Knilch! Von wegen Fruchtstücke!
Der neue Meg-an! Jetzt noch mehr teurer!
Humbug-Mülleimer! Wir haben Zeit. Und Anwälte.
Jemand stieß mir in die Seite. Eine Frau, Mittelalter, blondierte Haare, die ihr wirr ins Gesicht hingen. „Sehen sie sich das an!“, brüllte sie und klatschte mir eine Tiefkühlpizza in die Arme. Als ich konsterniert inne hielt, riss sie die Packung in meinen Händen herum und stieß sie mir förmlich ins Gesicht.
„Sehen sie! Lesen sie!“.
Ich las:
„…Abfallprodukt aus Rinderklauen und Altölrückständen…Konservierungsstoff, basierend auf eindeutig krebserregenden…Geschmacksstoff mit Industriedichtmasse…Streckmittel der Pharma-Industrie…Reste aus maschineller Konservenproduktion..“
Alles fettgedruckt. Lupenreiner Klartext. Ich entdeckte keine einzige der kryptischen Zahlen- und Buchstabenkombinationen, die normalerweise auf allen Lebensmittelverpackungen Information vorgaukeln. Das war der Todesstoß.
Ich wankte durch die tobende Menge und ließ die Pizza einfach fallen. Eine freie Stelle, ich brauchte Luft. Die Katastrophe nahm mir den Atem.
Ich entdeckte Gott, als er gerade zwei Polizisten rettete, indem er sie samt Dienstwagen einschrumpfte und einem weinenden Mädchen zum spielen gab. Er hatte seinen Heiligenschein wohl abgeschaltet und wirkte nicht im Mindesten wie der große Weltenlenker, eher wie ein Philosophiestudent im dreißigsten Semester. Er trug einen Zopf, braune Cargohosen und ein Piratenhemd. Und ER sah ein eindeutig mürrisch drein.
„Hör mal, Alter, so geht das nicht“, sprach ich ihn an und biss mir auf die Zunge. Sein Outfit hatte glatt meinen ansonsten sehr gepflegten Ausdruck verfälscht.
„Wie meinen?“ ER starrte mich ausdruckslos an. „Passt dir was nicht, Adam?“
Ich holte tief Luft. „Verdammt noch mal, was hast du getan!“, schrie ich IHN an. „Alles wird zusammenbrechen!“
ER hörte gar nicht hin. Mit ausgebreiteten Armen schritt ER über den Platz wie ein genervter Versicherungsvertreter nach dem dreißigsten Hurrican in Oklahoma und schimpfte vor sich hin.
„Da guckt man mal zweitausend Jahre nicht in seinen Hobbykeller und was passiert? Aus dem lustigsten Spielchen der letzten Äonen ist ein selbstzerstörerischer Haufen Mist geworden!“
ER fuhr zu mir herum. „Ich hab´ euch doch nicht viertausend Sprachen gegeben, damit ihr nicht in einer einzigen davon die Wahrheit sagt. Eure Seele ist unsterblich, aber glaubt ihr denn, das kleine, zarte Ding ist deswegen auch unverletzbar?“
Ich zögerte vor diesem Ausbruch. „Aber…“, begann ich.
„Aber was?!“ ER war wirklich nicht bester Laune. Ich nahm allen Mut zusammen.
„Aber man kann doch nicht immer die Wahrheit sagen.“
„Ach nein?“ SEIN Blick war traurig. „Das erklär´ mir mal bitte.“
Ich geriet ins Stottern. Wo beginnen?
„Na zum Beispiel…die Blümchen und die Bienchen…Die müssen doch bleiben…Ich meine…Man kann doch den Kindern nicht…“ Ich verfluchte mich. Ausgerechnet das blödeste Beispiel.
„Willst du mich verarschen?“ ER klang unendlich enttäuscht.
„Gerade dort beginnt es doch. Wenn Du ein Kind belügst, egal womit und in welcher Absicht, wird es die Wahrheit irgendwann von selbst herausfinden. Damit bist du als Vertrauter erledigt. Zweitens gewöhnst du dir und ihm an, für unbequeme Wahrheiten bequeme Lügen zu erfinden. Wer lügt, liebt aber nicht. Wer nicht geliebt wird, lernt nie, selbst zu lieben. Wer nie liebt, kann nie lieben lehren. Auch seine Kinder nicht.
Ungeliebte Kinder werden bösartige Erwachsene. Schau dir die Welt an, Adam. Was glaubst du, ist die Ursache?“
Ich schluckte. Immerhin sprach ER noch mit mir. Ich fasste Mut.
„Aber wenn ich Arzt wäre…Und du Krebs hättest…Im Endstadium…Moment mal, warum gibt’s eigentlich…“
„Warum willst du unbedingt lügen?“, unterbrach ER mich. ER trat näher und sah mir in die Augen. Die seinen changierten in allen Regenbogenfarben.
„“Wenn du mir Wahrheit gibst, was könntest du mir nehmen?“, sprach ER. „Die Hoffnung? Letzte Lebenszeit? Nichts dort gehört zu dir, doch alles mir. Und das Vertrauen, dass du dir erwirbst, wird stärken meine Seele.
So denn noch Hoffnung ist, werd´ ich dir folgen und wo es keine gibt, dort zähl´ auf mich.“
„Shakespeare?“, stammelte ich.
„Leck mich“, knurrte Gott.
„Versteh´ doch“, fuhr ER nach einer Pause fort.
„Die Lüge ist die Wurzel allen Übels. Durch sie verliert ihr das Vertrauen, betrachtet euch als Gegner und als Konkurrenten, als Todfeinde bald und ihr könnt das gar nicht einmal mehr aus der Welt schaffen, weil ihr nämlich gar nichts mehr glaubt.
Eure hohlen Phrasen, eure verquasten Ausdrücke, die verlogene Werbung, das Kleingedruckte; egal in welchem Bereich, sogar in den meisten Ehen, nichts als Lug und Trug.
Das ist für euch schon so normal geworden wie atmen. Selbst die Liebe kann nicht mehr alles richten, ihr vertraut euch ja nicht einmal selbst. Oder kannst du mir eine zeitlose Liebe zeigen? Eine Leidenschaft, für die man alle Masken fallen lässt, auf Gedeih oder Verderb, besinnungs- und bedingungslos? Und wenn du mir jetzt mit euren unsäglichen Beziehungen kommst, dann raste ich aus.“
Hier war Vorsicht angesagt. Aber ich konnte mich nicht bremsen.
„Ich soll also meiner Geliebten unverblümt sagen, dass sie fett wird, ja? Ihre Cellulite beschreiben, richtig? Und das alles auf Gedeih und Verderb, wie?“
Ich legte so viel Sarkasmus in meine Stimme wie nur möglich, aber das leichte Zittern machte die Wirkung zunichte. Ich stritt mich immerhin mit IHM.
„Nein.“ Gott lächelte milde. „ Glaub mir, deine Liebe weiß das besser als du. Und wenn es dich stört, werden deine Blicke dich längst verraten haben. Ansonsten könntest du auch einfach den Mund halten.“
ER verschränkte die Arme vor der Brust. „ Ich habe es lediglich so eingerichtet, dass jeder, der sich äußert, egal ob mündlich oder schriftlich oder wie auch immer, ob er ein Bild malt oder ein Foto macht, ob mit Musik, im Gebet oder bei einer öffentlichen Erklärung, er sich der Wahrheit bedienen muss, weil es einfach keine Lüge mehr gibt.
Ich hab sie aus dem Programm geschrieben.“
„Na toll“, murrte ich. „Also keine Gemälde mehr, kein Theater, kein Kino. Auch keine Romane. Verdammt. Du hast ´ne Meise, weißt du das?“
Statt mich in Stein zu schlagen, grinste ER.
„Gemälde. Kino. Da liegt dir dran, was?“
Ich zuckte ertappt die Schultern und ER lachte laut.
„Keine Angst“, beruhigte er mich. „Was der Maler sieht und darstellt, ist für ihn eine Wahrheit, also auch für dich. Niemand erwartet in einem Roman die Realität. Und auf der Bühne ist es ein Spiel. Nur die Fotografen werden sich in Zukunft an die Gegebenheiten halten müssen. Da lernen sie wieder richtig arbeiten.“
Ich seufzte. „Also keine photogeshopten Südseesonnenuntergänge mehr.“
„Die sind schön, so wie sie sind“, sagte Gott. „Du solltest mal hinfahren.“
„Wovon denn?“, plärrte ich. „Bei dem globalen Chaos, das jetzt losbricht, kann ich froh sein, nicht verhungern zu müssen. Hast du überhaupt eine Ahnung, was du angerichtet hast? Aktienanalysen, die Börse, internationale Verträge, Bündnisse und Koalitionen, nichts hätte mehr Bestand, nichts wird mehr gültig sein! Du hast doch recht, wir können die Wahrheit einfach nicht verkraften! Es werden Millionen sterben, Gott!!“
„Nu und?“, meinte ER ungerührt. „Ihr seid sowieso viel zu viele. Vielleicht kriegt der Rest sogar die Umweltschäden wieder hin. Denkst du, ich habe Lust, den ganzen Kram noch mal zu schaffen?“
ER beäugte seine Fingernägel. „Nö, du.“
Ich sah die Sonne sinken.
***
Müde schleppte ich mich spätnachts in meine Wohnhöhle zurück, unter den Armen einen Kofferfernseher und einen Laptop. Ich würde Gott kontrollieren müssen.
In der Sache war er hart geblieben, aber wir hatten uns geeinigt. Keinen sofortigen Lügenentzug und einen Tagesneustart. Stattdessen ab morgen zufällig ausgewählte Menschen, jeden Tag mehr und jeder mehr Tage ohne Lüge als vorher. Auf diese Weise würde sich das System durch die Beispielwirkung irgendwann selbst tragen und die Gesellschaften nicht schlagartig überlasten. ER hatte bereitwillig zugehört, als ich IHM meinen Plan erläuterte.
„Okay“, meinte ER dann cool. „Wie viele für den Anfang?“
„Von mir aus fünfzig“, bestimmte ich forsch. „Weltweit natürlich. Und lügenlos für, sagen wir, erst mal eine Woche.“
„Soso, na gut“, meinte er. Ich glotzte. Gott hatte tatsächlich einen Filofax. Nur dass seine Tage Jahrtausende waren. Er krakelte drin rum.
„Und was ist mit Wechsel?“, fragte er. „Monatlich? Oder abhängig von der vorherigen Dauer?“
„Von der vorherigen Dauer“, sagte ich, auf einmal gar nicht so sicher wie am Anfang. ER wirkte einfach zu bereitwillig.
„Okidoki.“ Gott knallte den Kalender zu, ein Donnerschlag hallte durch die Fußgängerzone. „Dann sind wir uns wohl einig.“ ER streckte mir die göttliche Pfote hin und ich schlug ein. Mit der anderen Hand winkte ER über die Schulter.
„Wenn du noch schnell was plündern willst, da drüben ist ein Media-Markt. Ich warte dann mit der Ratifizierung.“
Und deshalb surfe ich jetzt jeden Tag durch´s Internet. Ich überwache die Newsgroups und die großen Zeitungen, die Diskussionsforen, Weblogs und die Agenturen. Der Fernseher läuft Tag und Nacht, ein Radio habe ich immer dabei. Noch wirkt das System nur in der Privatsphäre, aber ich finde immer mehr von uns. Und wenn es durchbricht, wird irgendwann, irgendwo irgendwer auch offiziell die Wahrheit sagen. Bis jetzt betrügen sie alle und schlimmer noch, sie glauben selbst an ihre Lügen. Aber ich weiß, dass ihre Zeit abläuft. Wir schlagen sie mit Wahrheit, mit unseren eigenen, wahrhaftigen Leben.
Ich hoffe nur, wir schaffen es, bevor ER mal wieder in seinen Hobbykeller steigt…
LovDev - 22. Dez, 07:34
!!!